Das Volksfest der Büßer
Auf der Gran Vía de Colón in Granada, im Rücken der Kathedrale, sind von Ferne die dumpfen Trommeln der Bruderschaft des Cristo del Consuelo zu hören. Auf beiden Seiten der Straße sammelt sich das Publikum. Zwei Kinder blasen unermüdlich in ihre Spielzeugtrompeten; ein Luftballonverkäufer läuft mit seiner Ware, die glänzend über ihm schwebt, durch die Menschengruppen; eine Frau mit gepiercter Augenbraue und Unterlippe verabredet sich am Mobiltelefon mit einem Freund; ein alter Mann bietet auf einem Karren Trockenfrüchte an; ein paar Teenager mit spiegelnden Sonnenbrillen begrüßen sich mit lautem Hallo; eine Gruppe holländischer Touristen blickt gespannt die Straße hinab. Es ist ein buntes Volk und ein wildes Durcheinander.
Die Trommeln rücken näher, immer deutlicher ist ihr Rhythmus zu hören, dann auch die Trompeten der Prozessionskapelle. Rote Spitzen sind zu sehen, sie wanken wie von Geiserhand bewegt über den Köpfen der Zuschauer hin und her, dann schwankt der Cristo del Consuelo, den alle den «Zigeunerchristus» nennen, durch die Menschenmenge die Straße hinauf. Vor ihm her laufen die Nazarenos in violetten Tunikas, mit verhüllten Gesichtern unter roten, spitz zulaufenden Kapuzen. Einheimische und Besucher recken den Nazarenos und dem Cristo ihre Kameras entgegen. Ein wildes Klicken der Kameras und ein Blitzlichtgewitter setzen ein. Die Semana Santa – die «Heilige Woche» von Palmsonntag bis Ostersonntag – in Granada ist ein Fest, ein buntes, meist lautes, alle Sinne betörendes Volksfest. Aber es ist doch zugleich ein Fest des Glaubens.
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Ein visueller Katechismus aus dem 16. Jahrhundert
Während die Prozession des Zigeunerchristus an der Kathedrale vorbeizieht, sammeln sich wenige Schritte entfernt die Mitglieder – Männer und Frauen – der Bruderschaft Nuestro Padre Jesús Nazareno in ihrer Kirche Carmelitas Descalzas. Es ist früher Abend, noch zwei Stunden bis zum Auszug aus der Kirche. Antonio López Carmona, der Sekretär der Bruderschaft und im Zivilberuf Mathematikprofessor an der Universität von Granada, ist als einer der Ersten angekommen. Er sitzt, fertig angekleidet in seiner violetten Tunika, aber noch ohne Kapuze, auf einem Stuhl am Rand des Kirchenraumes und strahlt fröhliche Ruhe aus.
«Was wir hier machen, kommt aus dem 16. Jahrhundert», erklärt López Carmona. «Die Gottesdienste wurden damals auf Latein gehalten, und das Volk verstand kein Latein. Da waren die Prozessionen ein visueller Katechismus. Man trug die Christus- und Marienstatuen auf Gestellen durch die Straßen, damit die Leute sie wirklich sehen konnten.»
Wie ihre Vorgänger vor 500 Jahren wird die Bruderschaft an diesem Abend eine Darstellung Christi auf seinem Leidensweg und eine Gnadenreiche Jungfrau, die ihren Sohn tröstet, durch Granada tragen. Während die Figuren übers Jahr zur Kirchenausstattung gehören, lagern die prunkvollen Gestelle in einem Abstellraum unter der Kirche. Drei Wochen Arbeit kostet es, sie aufzubauen, zu putzen und zu schmücken und die Jesus- und die Marienfigur darauf zu montieren. Jetzt stehen sie im Altarraum nebeneinander bereit für die Prozession.
Der Paso – das Gestell – der Maria mit einem Baldachin und 88 mächtigen weißen Kerzen zu ihren Füßen wiegt 2400 Kilogramm, der Paso des Christus etwas weniger. Unter den Mitgliedern der Bruderschaft, die die Kirche zu füllen beginnen, sind etliche Dutzend junge Männer. Diese Costaleros werden unter die Gestelle kriechen und die Pasos schultern, um sie fünfeinhalb Stunden lang durch die Straßen Granadas zu tragen.
«Das ist keine Frage der körperlichen Kraft», sagt der 18-jährige Adrián, «die Kraft finde ich in mir.» Er meint die Kraft seines Glaubens. Gemeinsam mit 34 anderen Männern wird er den Christus tragen. Er wird nichts sehen unter dem Gestell, er wird sich auf die Zurufe des Capataz, der dem Paso vorangeht und dabei immer dessen Gleichgewicht im Auge behält, verlassen müssen. Alle paar Minuten wird die Gruppe der Costaleros den Paso wieder absetzen, aber es bleibt eine harte Arbeit. Und dennoch: Es sei eine wunderbare Erfahrung, sagt Adrián, der den Christus im vergangenen Jahr zum ersten Mal mittrug. «Ich habe immer davon geträumt, eines Tages Costalero zu sein, und mein Traum ist wahr geworden.»
José Torres Hurtado, der Bürgermeister von Granada, ist stolz auf seine Costaleros. «Vor 30 Jahren dachte man, mit der Semana Santa könnte es bergab gehen, weil es keine Costaleros mehr gab, die diese Arbeit auf sich nehmen wollten. Da wurden die Pasos auf einer Art Wagen durch die Stadt gefahren. Aber heute stehen bei allen 32 Bruderschaften Granadas junge Leute Schlange, die Costaleros sein wollen.»
Das Wiederaufleben der Semana-Santa-Tradition in Granada mag mit der Konkurrenz Sevillas zu tun haben. Sevilla ist die Hauptstadt Andalusiens, und in Sevilla wird die berühmteste, die prächtigste, die meistbesuchte Semana Santa Spaniens gefeiert. Ein Anlass für Neidgefühle im kleineren Granada. Bürgermeister Torres Hurtado spricht ganz selbstverständlich von einem Wettbewerb zwischen der Sevillaner und der Granadiner Semana Santa – «und wir sind dabei, diesen Wettbewerb zu gewinnen», glaubt er. Zugegeben, die Pasos in Sevilla seien «luxuriöser», weil Sevilla immer die reichere Stadt gewesen sei. Aber keine andere Stadt könne mit der einzigartigen Szenerie mithalten, durch die in Granada die Prozessionen schreiten. Tatsächlich ist das Gewirr steil ansteigender Gassen im Altstadtviertel Albayzín so einzigartig wie der Blick vom Hügel des Albayzín auf den gegenüberliegenden Hügel, auf dem die Alhambra thront, der alte Maurenpalast.
Dort, in der Kirche Santa María de la Alhambra auf dem Palastgelände, ist alles für den Auszug zur Prozession bereit. Es herrscht ein Trubel wie vor einer Theaterpremiere. Die jungen Costaleros stehen lässig neben dem Paso und scherzen miteinander, die Nazarenos überprüfen noch einmal den Sitz ihrer Tunikas, eine Frau hat sich die Gesichtsmaske ihrer Kapuze für ein letztes Telefonat hochgeschoben. Keine Spur von religiösem Ernst. Bis dann die Männer und Frauen der Bruderschaft ein gemeinsames Gebet sprechen, sich bekreuzigen, und das Kirchenportal geöffnet wird. Die Prozession beginnt. Beim Verlassen der Kirche gehen die Costaleros mit dem Paso am Portal mit staunenswerter Körperbeherrschung in die Knie, draußen schließt sich die Prozessionskapelle an und spielt die spanische Nationalhymne. Das Publikum klatscht.
Die Alhambra ist eine einzigartige Kulisse
Der Auszug der Prozession aus der Alhambra ist einer der Höhepunkte der Semana Santa von Granada. Eine halbe Stunde braucht der Zug allein bis zum äußeren Tor des Palastgeländes, der Puerta de la Justicia, über die sich ein Turm der Befestigungsmauer erhebt. Eine aufgeregte Menschenmenge wartet vor dem Tor auf die Ankunft der Prozession. Es ist fast Nacht geworden, nur ein letzter Lichtstreif hängt über dem Horizont. Still ziehen die ersten Nazarenos durch das Tor. Und mit einem Mal taucht der von innen erleuchtete Paso mit der trauernden Maria, den toten Jesus im Arm, unter dem Hufeisenbogen des Palasttores auf. Eine Erscheinung. Dann regnen Rosenblütenblätter vom Turm auf die Figuren herab. Die Menschen klatschen und klatschen.
Die Semana Santa ist ein immer wieder perfekt inszeniertes Spektakel. Aber nicht nur. «Für mich ist sie etwas anderes», sagt Antonio López Carmona. Für ihn, der als Nazareno an der Prozession seiner Bruderschaft teilnimmt, ist sie ein Bußgang. Das Zeichen für die Buße ist der spitz zulaufende Hut unter der Kapuze. Solche Hüte bekamen die Verurteilten der Inquisition aufgesetzt, wir sind Sünder, bedeute der Hut. «Ein Besucher der Semana Santa kann versuchen, mit offenem Geist zu kommen und nicht nur beim Äußerlichen zu bleiben», sagt López Carmona. «Er kann versuchen, in unsere Haut zu schlüpfen. Das ist wahrscheinlich schwierig – aber nicht unmöglich.»
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