In Granada wird wieder arabisch gesprochen
Vor 500 Jahren wurden die Mauren aus Andalusien vertrieben. Nun kehrt der Islam zurück
Martin Dahms
GRANADA, im Dezember. Kommen Sie, kommen Sie, drängt Pater Javier mit strahlendem Gesicht. Aus dieser Perspektive haben Sie die Alhambra noch nie gesehen. Mit vorsichtigen Schritten steigt der 77-Jährige die eiserne Treppe zur Dachterrasse des Nebengebäudes seiner Kirche San José hinauf, holt ein wenig Luft, und dann zeigt er mit einer kleinen Geste auf den Hügel gegenüber. Dort liegt, zum Greifen nah, der mächtige Palast des maurischen Herrschergeschlechts der Nasriden, die Alhambra, die Rote Festung aus dem 13. Jahrhundert. Das berühmteste Symbol des Islam auf spanischem Boden, eingetaucht in gelbes Scheinwerferlicht.
Pater Javier ist entzückt. Bei diesem Anblick bekommt man Lust, zu beten und die Menschen zu lieben. Der alte Priester in Granadas verwinkeltem Altstadtviertel Albaicín ist ein Menschenfreund. Das Lächeln weicht ihm nicht aus dem Gesicht, es strahlt die Freude aus an seinem katholischen Glauben. Auch wenn die Zeiten nicht die besten sind für seine Religion. Ich bin vor sechs Jahren nach Granada zurückgekehrt, nach 40 Jahren Mission in Guatemala. Es war nicht einfach, mich wieder an Spanien zu gewöhnen. Der Fortschritt zerstört die Menschen, ein egoistischer Fortschritt, ein Fortschritt des Habens. Es gibt keinen Geist, kein Leben, die Werte gehen verloren.
An diesem Abend hat Pater Javier in einer Seitenkapelle seiner Kirche die Messe gelesen, 40 Gläubige haben mit ihm gesungen und gebetet. Hier im Viertel gibt es nicht mehr so viele Leute, die zur Messe kommen. Die Alten ziehen weg, weil ihnen die steilen Gassen des Albaicín zu mühsam werden. Stattdessen kommen Araber. Jeden Tag mehr.
Die Straßen Calderera Nueva und Calderera Vieja ein wenig unterhalb der Kirche haben sich in nicht einmal zehn Jahren in einen Basar voller arabischer Teestuben, Restaurants und Andenkenläden verwandelt. Eine neue Farbe im alten Albaicín und eine Touristenattraktion. Der Pater klagt nicht darüber. Die Araber sind sehr gute, schlichte Menschen. Ich bin mit vielen von ihnen befreundet. Und während des Ramadan zeigen sie unserer Gesellschaft, dass es mehr gibt in dieser Welt als nur Dinge.
Die neue Reconquista
In zwanzig Jahren, davon ist Pater Javier überzeugt, wird sein Viertel, der Albaicín, weit gehend arabisch sein. Sie kommen mit dem Gedanken der Reconquista im Kopf. Der Rückeroberung. Der Priester spricht das große Wort gelassen aus.
Dass in Granadas Straßen Arabisch gesprochen wird, ist nichts Neues. Die Stadt gehörte schon einmal, fast acht Jahrhunderte, ein ganzes Zeitalter lang, zur arabischen Welt. Im Jahr 711 marschierte der maurische Heerführer Tarik aus Nordafrika kommend in Europa ein und unterwarf in kurzer Zeit fast die gesamte iberische Halbinsel. Der wenig später einsetzenden Reconquista durch die christlichen Könige aus dem Norden widerstand das nasridische Königreich Granada noch 250 Jahre länger als der Rest Spaniens. Erst 1492 nahm Isabella von Kastilien, die später vom Papst ehrenhalber zur Katholischen Königin erhoben wurde, gemeinsam mit ihrem Mann Ferdinand von Aragón die Stadt der Alhambra ein und vollendete die christliche Rückeroberung. An der Grabstätte Isabellas und ihres Gatten in Granada erinnert eine lateinische Inschrift für alle Zeiten daran, dass hier die Vernichter der mohammedanischen Sekte und Auslöscher der ketzerischen Falschheit ruhen.
Doch wie Isabella behielten auch die Moslems Granada in ihrem Herzen. Al-Andalus, der einstige Name für das gesamte islamisch beherrschte Iberien, wurde zum Mythos. Manche träumen noch heute von der diesmal islamischen Reconquista. In seiner kruden Rechtfertigung für die Attentate des 11. Septembers 2001 sprach Osama bin Laden von der Tragödie von al-Andalus, die sich in Palästina nicht wiederholen dürfe. José María Aznar, der frühere spanische Premier, antwortete nach den Madrider Terroranschlägen vom 11. März dieses Jahres nicht viel feinsinniger: Die Probleme Spaniens mit El Kaida begannen im 8. Jahrhundert, als Spanien von den Mauren überfallen wurde und sich weigerte, ein Teil der islamischen Welt zu werden. Ein Kampf der Zivilisationen in den Köpfen.
Die Einnahme Granadas wurde in Rom, in Paris, in ganz Europas gefeiert, sagt Manuel Reyes, der Dekan der Königlichen Kapelle in Granada. Europa lebte in Furcht vor den Türken, die 1453 Konstantinopel erobert hatten und den halben Balkan besetzt hielten. Granada ließ die Christen aufatmen. Der Zusammenstoß der Zivilisationen ist ein Jahrhunderte altes Phänomen.
Isabella hatte bei ihrem Tod am 26. November 1504 ein ganz und gar katholisches Königreich hinterlassen. Ihr Urenkel Philipp II. vertrieb 1571 die letzten Nachfahren der zur Taufe gezwungenen andalusischen Mauren. Doch heute, 500 Jahre nach Isabellas Tod, ist ihr Lebenswerk, die christliche Reinheit Spaniens, gefährdet. Der Islam ist nach Granada zurückgekehrt. Rund 15 000 Moslems leben wieder in der Stadt, etwa die Hälfte von ihnen sind Arbeitsimmigranten, die andere Hälfte Studenten vor allem aus dem Maghreb. Ein Abschluss der Universität Granada ist gerade in Marokko ein Qualitätszertifikat.
Nouredine Slimani, der in der Calderera Vieja am Fuße des Albaicín einen Laden mit Kunsthandwerk betreibt, muss trotzdem lachen, wenn er das Wort von der Reconquista hört. Ich bin nach Spanien gekommen, um mein Brot zu erobern, nicht das Land, verstehst du, Bruder? Der 48-jähriger Marokkaner hat eine Spanierin geheiratet, sie zum Islam bekehrt und mit ihr sechs moslemische Kinder zur Welt gebracht.
Die stolzesten Vertreter ihres Glaubens in der Stadt sind die spanischen Konvertiten, die der katholischen Kirche auf ihrer persönlichen Sinnsuche den Rücken gekehrt haben. Eine Gruppe von heute etwas 1 500 Menschen. Sie haben Granada zur Islamischen Hauptstadt Europas erklärt, und nach 23 Jahre währendem Kampf mit den Nachbarn und den Behörden haben sie im vergangenen Sommer ihre Moschee auf dem höchsten Punkt des Albaicín-Hügels eingeweiht, mit einer exklusiven Aussicht auf die Alhambra, die den Blick von Pater Javiers Dachterrasse an Erhabenheit noch übertrifft. Eine Moschee im andalusischen Stil aus weiß bemalten Ziegelsteinen und roten Dachpfannen, gebaut mit Geld aus Marokko und den Emiraten. Ein Symbol, wenn nicht der Reconquista, so doch der Rückkehr des Islam ins alte europäische Heimatland. Nach 500 Jahren ruft im Albaicín wieder ein Muezzin fünf Mal am Tag zum Gebet.
Minarett als Glockenturm
Der Direktor der Moschee-Stiftung, Malik Ruiz, ist in vielem das Gegenstück zum herzensfrohen Pater Javier von der Kirche San José ein paar Hundert Meter weiter. Im Gespräch erhellt kein Lächeln das Gesicht des 34-jährigen Bauingenieurs. Die Lage ist ernst. Wir erleben die größten Ungleichheiten aller Zeiten, Arbeitslosigkeit, Intoleranz, Gewalt. Doch zum Glück gebe es den Islam, der Lösungen für alle Probleme dieser Gesellschaft bereithalte. Über Geschichte redet Ruiz, der vor zwölf Jahren zum Islam konvertierte, nicht gern. Nur so viel: Wir haben keine romantische Sicht auf die Vergangenheit. Wir sind aus dieser Gesellschaft, aus dieser Zeit.
Im Albaicín leben sie, trotz der Schrecken vom 11. September und vom 11. März, friedlich beieinander, die Katholiken, die alten und die neuen Moslems, die Zigeuner, die Studenten und die Leute aus der Bohemien-Mittelschicht, die viel Geld für ein Häuschen mit Alhambra-Blick hinlegen. Die Moschee ist nur ein Mosaikstein unter vielen in diesem bunten Granadiner Mikrokosmos, ein Mosaikstein wie Pater Javiers Kirche, die als Glockenturm noch das Minarett einer Moschee aus maurischen Zeiten bewahrt.